„Früchte des Geistes“ (8. So. n. Trinitatis, 2.8.2020)

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Joh 9,1–7Luther 2017  •  ELKG 053

Die Frage nach der Schuld ist eine der ältesten in der Menschheitsgeschichte. Wie eine Fessel bindet sie uns an die Vergangenheit.

Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.

Jesus antwortet nicht auf die Frage nach der Vergangenheit. Sein Blick richtet sich auf die Zukunft.

Heute möchte ich gar nicht meine eigenen Gedanken teilen. Bei meiner Suche zu diesem Predigttext bin ich auf eine Predigt von Pastor Henning Kiene gestoßen, die er bereits im Jahr 2001 gehalten hat. Seine Gedanken haben mich nachdenklich gestimmt. Und ich möchte sie gerne mit euch teilen:

Ich bin überrascht, dass den Jüngern Jesu, obwohl sie schon fünf „Wunder“ mit ihm erlebt hatten, nur dieser Satz einfällt. „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“ Es ist, als hätten sie Jesus nicht gekannt, es ist, als hätten sie von Jesus trotz der langen Zeit, die sie mit ihm gelebt haben, nichts begriffen. Er lebt Gottes Gegenwart vor, und ihnen fällt nichts Besseres ein, als nach der Schuld zu fragen. Da sprudelt Gottes Liebe vor ihren Augen in diesem Menschen wie eine tiefe Quelle, und sie bewegen noch immer das staubige Instrumentarium alter Zeiten. Keine Frage fixiert mehr an Vergangenes, als die Frage nach der Schuld! Jesus löst die fatale Bindung an die Lasten der Vergangenheit. Fesseln anlegen ist nicht Aufgabe des Glaubens, Schuld an Menschen binden und sie an ihrer Schuld fest zu machen auch nicht. Jetzt erleben wir die erste Heilung in dieser kurzen Geschichte: Jesus heilt erst seine Jünger. Er macht sie frei von der Frage nach dem, wer, wann, was falsch gemacht hat, er heilt sie von der Bindung an die Frage nach der Schuld.

Bitte verstehen sie richtig: Dass es Schuld gibt und dass sie krank machen kann, wird niemand leugnen. Sogar, dass die Schuld der Eltern einem selbst das Leben schwer machen kann, ist nicht zu leugnen. Wir, die erste Nachkriegsgeneration hat das noch gut in Erinnerung. Die Last der Schuld der Eltern kann schwer auf einem drücken. Dass es aber eine Qualität des Glaubens ist, die den Schuldzusammenhang nicht leugnet, sondern aufbricht, ist Jesu Tat. Er löst die Fessel. Wenn es gelingt, statt die Schuld zu verneinen, sie als nicht für immer an unsere Person gebunden zu erfahren, dann beginnen wir Jesus zu begreifen. Das allein ist schon Heilung, wenn die Frage nach meiner Schuld mich nicht blind macht für die Zukunft.

Wir erleben in dieser Wundergeschichte, wie die Schuldfrage von der Person, von seiner Lebensgeschichte und sogar der Lebensgeschichte seiner Familie, gelöst wird. Dann erleben wir mit, wie die „Warum-Frage“ in die „Wohin-Frage“ verwandelt wird. Keine Frage ist so aufzehrend, gerade, wenn man sich durch etwas Schweres hindurcharbeiten muss, wie die Frage, die mit „warum“ beginnt. Weil sie die vielen Schattierungen des Lebens nicht ertragen will. Wer sie stellt, rechnet damit, dass das Leben glatt und gleichmäßig ist, dass in ihm immer alles gerecht zugeht. Wer mit „warum“ sein Leben befragt, wird verstehen müssen, dass es aus seiner eigenen Sicht oft auch ungerecht zugeht. Nur wenig von dem, was ich ins Leben investiere, kommt mir und meinen Kindern unmittelbar zu Gute. Warum nur? Es gibt eine noch ungeordnete Seite in der Schöpfung, einen Rest Chaos, das noch nicht zu seiner letzten Bestimmung gekommen ist. „Warum“ hat die Qualität, die noch unfertige Seite der Schöpfung bloß zu legen. Die Blindheit des Blinden gehört dazu. Sie zeigt, dass es Bereiche in meinem Leben gibt, in denen wir auf Gott als Schöpfer angewiesen bleiben. Und es gehört zu den großen Lebenschancen, wenn wir das „Warum“ in die Frage eintauschen dürfen, die mit einem „Wohin“ beginnt. „Wohin führt mich das?“, „Wohin werde ich mich entfalten können?“ Für den Blinden wird der Wechsel von „warum“ zu „wohin“ das Leben mit einer Qualität füllen, die der Blindheit trotzt. Und wir Sehende werden von dieser Seite der Heilung profitieren. Wenn wir begreifen, dass das „Wohin“ weiter führt als das „Warum“, lassen wir uns auch mit den unebenen Seiten, selbst mit dem, was uns ungerecht erscheint, voran bringen.

Wir sprechen beim Johannesevangelium nicht von Wundertaten, sondern von Zeichenhandlungen. Sie unterstreichen ein Bedürfnis in uns. An unseren wunden Stellen möchten wir ganz behutsam, heilend berührt werden. Es geht nicht nur um die Frage der Jünger, die sich nach der Schuld erkundigt. Auch die Frage, wie es denn kommen konnte, dass so etwas passiert, wird nicht helfen. In uns ist ein tiefes Bedürfnis wach, das nach zarter Berührung unserer wunden Punkte verlangt. Ein Streicheln meiner Schmerzen, eine Berührung meiner wunden Seele. Es ist, als wollte Jesus zeigen, dass die Seite meines Lebens, an der ich besonders verletzlich bin, zu ihm gehört und nach seiner behutsamen Hand verlangt.

Ich möchte Ihnen das Wunder nicht erklären müssen. Lassen Sie es uns als Zeichen verstehen. Gott zeigt, dass er an seiner Schöpfung noch arbeitet, ihr vom „warum“ zum „wohin“ hilft. Er schuf ihm Augenlicht und gab seinem Leben eine weitere Perspektive. Er hatte die Fessel, die die Schuld und die falschen Fragen um ihn legten, schon gelöst, hatte ihm eine zarte Berührung geschenkt. Was wohl wichtiger war, das Augenlicht, die Perspektive, oder reichte alleine die Berührung schon aus?

Gedankenanstöße

  • Die Frage nach dem „Warum“ stellt sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens. Gibt es Momente in deinem Leben, wo du dich bewusst von der Warum-Frage gelöst hast und nach dem „Wohin“ gefragt hast?
  • Pastor Kiene hat in seiner Predigt gesagt, dass wir „Sehende“ sind. Würdest du dem zustimmen? Wenn ja, warum? Wenn nicht, warum nicht?
  • Das Thema „Berührung“ ist ja gerade in diesen Corona-Zeiten sehr spannend. Was machen Berührungen in deinem Leben aus?

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